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iPART-Analyse zur Geschichte der österreichischen Präsidentschaftswahlen

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Exposé aus Anlass einer Analyse zur Präsidentschaftswahlen in Österreich im Wahlstudio Vorarlberg Live, Russmedia, Schwarzach (Vorarlberg); 9. Oktober 2022, 16:30 Uhr (vor der ersten Hochrechnung der Ergebnisse um 17 Uhr)

von Gastprof. (FH) Priv.-Doz. Mag. Dr. Wolfgang Weber, MA, MAS

Die erste Wahl eines österreichischen Bundespräsidenten fand am 9./10. Dezember 1920 statt. Allerdings gab es bereits zuvor schon einen, der dieses Amt gemeinsam mit seiner Tätigkeit als Präsident jener provisorischen Nationalversammlung ausübte, die am 12. November 1918 die erste österreichische Republik gründete.

Dieses Faktum verweist auf die Möglichkeit, dass das Amt auch anders als 1920 in der ersten österreichischen Verfassung deklariert im politischen System Österreichs verankert werden hätte können. Ähnlich wie noch heute in der Schweiz hätte der Bundespräsident, die Bundespräsidentin, auch als ein Amt geschaffen werden können, das als Add-on für eine:n Spitzenpolitiker:in ausgeübt wird. Das scheiterte 1918/20 jedoch an den grundsätzlich unter-schiedlichen Verständnissen der beiden großen Republik gründenden Parteien über die Machtverteilung in einer Demokratie.

Während die Sozialdemokratie das Parlament als das Zentrum der Macht in einer Demokratie verstand, welches alle staatlichen Ämter und Aufgaben kontrollieren sollte, strebte die Christlichsoziale Partei eine Aufteilung der Macht zwischen einem autonomen vom Parlament gewählten Staatsoberhaupt und dem direkt vom Volk gewählten Nationalrat an.

Daher endete das kurze Zwischenspiel des Sozialdemokraten Karl Seitz als doppelter Präsident von Parlament und Republik auch bereits zwei Jahre nach der Gründung der Republik Deutsch-Österreich. Am 1. Oktober 1920 hatte das österreichische Parlament die Verfassung der Republik beschlossen und darin das Amt des Bundespräsidenten, der Bundespräsidentin, als ein schwaches, vor allem repräsentatives Staatsoberhaupt definiert.

Heinz Fischer, Bundespräsident zwischen 2004 und 2016, verwies in einem Fernsehinterview vor wenigen Tagen darauf, dass das Bild des Bundespräsidenten bis zu seinem Amtsantritt jenes eines „Frühstückdirektors und Staatsnotars“ ohne politisches Gewicht gewesen sei. Mit Heinz Fischer, der übrigens von 1990 bis 2002 wie Karl Seitz Präsident des Nationalrates, also einer von zwei Kammern des österreichischen Parlamentes war, hätte sich dieses Bild geändert. Denn er habe den verfassungsrechtlichen Spielraum des Amtes als eines von mehreren obersten Organen der Republik aktiv genutzt, so Fischer selbst.

Fischer übernahm das Amt des Bundespräsidenten als zweiter Präsident des Nationalrates. So wie der erste österreichische Bundespräsident Karl Seitz war also auch Heinz Fischer ein doppelter Präsident – nur nicht gleichzeitig, sondern hintereinander. Wie es die Bundesverfassung seit 1920 bestimmt. Ein Bundespräsident, eine Bundespräsidentin darf nämlich keine andere Tätigkeit als jene des obersten Organs der Republik ausüben. Dafür erhält er rund 25.000.- € pro Monat.

Präsidenten-Bilder

In der vergangenen 102 Jahren verfestigte sich ein Bild über das Amt des Bundespräsiden-ten, der Bundespräsidentin, welches ein sehr passives ist. Es soll überparteilich sein, sich nicht in Tagespolitik einmischen, sich zurückhalten und selbst beschränken, m.a.W. die seit einer Verfassungsreform 1929 durchaus vorhandenen tagespolitischen und Krisenkompetenzen des Amtes sollten nicht genutzt werden.

Eine Beleggeschichte, die darüber gerne erzählt wird, betrifft den zweiten resp. ersten Bundespräsidenten Dr. Michael Hainisch (1920-1928): Als er auf seinem täglichen Spaziergang durch den ersten Bezirk flanierte, verlor er sein Taschentuch. Ein Passant sah das, hob es auf, lief ihm nach und übergab es ihm mit dem Hinweis, er habe es eben verloren. Der Bundespräsident habe sich überschwänglich beim Passanten dafür bedankt, worauf dieser er-widerte, das sei doch nicht notwendig, es sei selbstverständlich. Darauf habe Hainisch geantwortet: „Aber ganz im Gegenteil. Das Taschentuch ist für mich sehr kostbar. Denn es ist der einzige Gegenstand, in den ich meine Nase hineinstecken darf.“ Damit wollte er ausdrücken, dass er in seinem Amt als Staatsoberhaupt tatsächlich sehr wenig Einfluss und nahezu keine Macht habe.

Von seinem Nachfolger Dr. Adolf Schärf, Bundespräsident von 1957 bis 1965, ist überliefert, dass kaum ein Tag vergangen sei, in dem er nicht über die Einsamkeit und die damit verbundene Unterbeschäftigung in der Hofburg geklagt habe. Schärf war als amtierender Vizekanzler und langjähriger SPÖ-Vorsitzender direkt aus der Tagespolitik in das Amt des Bundespräsidenten gewechselt, da sein Vorgänger, General Theodor Körner (1951-1957), überraschend in seiner Aktivzeit verstorben war.

Der Wechsel von der gestaltenden in die repräsentative Rolle fiel Schärf als ein Politiker, der im Ruf stand zuzupacken, also offenbar besonders schwer. Nicht zuletzt war Schärf gemein-sam mit Bundeskanzler Julius Raab und Außenminister Leopold Figl 1955 einer der Architekten des Staatsvertrages.
Schärf war auch einer, der die Rückkehr insbesondere jüdischer Menschen, die 1938 Österreich wegen der NS-Verfolgung verlassen hatten, aktiv verhinderte. Er stieß sich auch nicht daran, dass im Zuge seines Wahlkampfs für die BP-Wahl im Mai 1957 die Flüsterparole aus-gegeben wurde: „Wer einmal schon für Adolf war, wählt Adolf auch in diesem Jahr.“ Damit wurde auf den gemeinsamen Vornamen von Hitler und Schärf verwiesen. Im März 1957, wenige Wochen vor seiner Wahl, wurde in Österreich eine Generalamnestie für alle Angehörigen von NS-Organisationen vom Parlament beschlossen. Damit waren ehemalige Nationalsozialist:innen etwa von einer Strafverfolgung nach dem Kriegsverbrechergesetz pardoniert. Vielleicht auch wegen dieses Schattens auf seiner demokratiepolitischen Überzeugung blieb Schärf wie das Gros der Amtsinhaber seit 1920 der zurückhaltende, passive Bundespräsident.

Schärfs Vorgänger, der erste direkt vom Volk gewählte Bundespräsident Theodor Körner, war in dieser Hinsicht anders. Er war der erste, der die Rolle des Bundespräsidenten so aktiv interpretierte, wie sie mit der Verfassungsnovelle von 1929 möglich gemacht wurde. Dem-nach steht es dem Bundespräsidenten nämlich zu, eine ihm vom Bundeskanzler vorgeschlagene Bundesregierung abzulehnen resp. einzelne Mitglieder davon.

Bei der Nationalratswahl im Februar 1953 hatte sich eine machtpolitische Pattstellung zwischen SPÖ und ÖVP ergeben. Der mit der Regierungsbildung beauftragte Bundeskanzler Leopold Figl schlug daher vor, die wenige Jahre zuvor gegründete WdU, die direkte Vorgängerin der FPÖ, welche vor allem von ehemaligen Nationalsozialist:innen gewählt wurde, direkt an einer Konzentrationsregierung mit drei der vier Parlamentsparteien zu beteiligen. Die KPÖ sollte darin als vierte Parlamentspartei nicht vertreten sein.
Theodor Körner lehnte diesen Vorschlag mit dem Verweis ab, dass beim WdU nicht garantiert sei, dass er dem österreichischen Staat gegenüber positiv eingestellt ist. Leopold Figl musste daraufhin gehen und sein ÖVP-Kamerad Julius Raab bildete eine Koalitionsregierung aus ÖVP und SPÖ. Die sog. Große Koalition wurde zur längst praktizierten Regierungsform der Zweiten Republik in Österreich. Ihre lange Dauer war u.a. auch auf Positionen von Bundespräsidenten zurückzuführen, die ihr Amt so aktiv gestalteten wie Theodor Körner.

Bis zu Bundespräsident Dr. Thomas Klestil (1992-2004) am Ende des 20. Jahrhunderts war Körners tagespolitische Intervention jedoch die Ausnahme in der präsidentiellen Amtsführung. Österreichs Bundespräsidenten blieben „Frühstücksdirektoren und Staatsnotare“ wie es Heinz Fischer formulierte.
Thomas Klestil trat 1992 mit dem Wahlversprechen „Macht braucht Kontrolle“ an. Er gewann die Wahl zweimal und war nach Dr. Michael Hainisch (1920-1928) und Dr. Rudolf Kirchschläger (1974-1986) erst der dritte Präsident, dem eine Wiederwahl unter demokratischen Voraussetzungen gelang.

Klestil erfüllte sein Wahlversprechen von der Kontrolle. An der Jahrtausendwende sprach er sich gegen eine sog. Wenderegierung aus ÖVP und FPÖ aus, welche die Ära der Großen Koalition in Österreichs Zweiter Republik beendete, und forderte vehement eine Fortsetzung dieser Großen Koalition unter Führung der stimmenstärksten Partei SPÖ.

Die drittstärkste Partei ÖVP schlug ihm jedoch eine Koalitionsregierung mit der FPÖ unter ihrer Kanzlerschaft vor, welche zwischen den Parteien bereits paktiert war. Ohne dass Dr. Wolfgang Schüssel dazu als Vorsitzender der ÖVP einen Auftrag des Bundespräsidenten er-halten hätte – wie es üblich und in der Verfassung vorgesehen war.

Klestil hätte diese Koalitionsregierung aus ÖVP und FPÖ nun ablehnen können, dazu hatte er als Bundespräsident das rechtliche Pouvoir. Er hätte damit aber riskiert, dass eine von ihm gewünschte großkoalitionäre Regierung im Parlament keine Mehrheit gefunden hätte. Realpolitisch blieb ihm also nichts anderes übrig als den verfassungsrechtlich unmöglichen Alleingang des ÖVP-Vorsitzenden, dessen Partei Klestils Kandidatur 1992 ermöglicht hatte, zu akzeptieren und die sprichwörtliche steinerne Miene zum bösen Spiel zu machen.

Thomas Klestil wurde zumindest der erste Bundespräsident, der sich weigerte, einen vom Bundeskanzler vorgeschlagenen Minister anzugeloben. Dieses Recht steht ihm zu und er nutzte es aktiv. Mit dem 3. Jahrtausend war also Bewegung in das Bild des Bundespräsidenten gekommen, wie es im 20. Jahrhundert vorgeherrscht hatte: Der Bundespräsident war nicht mehr das neutrale über den politischen Parteien stehende passive Staatsoberhaupt, sondern der erste Vertreter von Österreichs Bürgerinnen und Bür-gern und gestaltete ihre Demokratie aktiv mit.

Vorarlbergs Beitrag zur Reihe der Bundespräsidenten

In den vergangenen 102 Jahren waren zwei konservative Vorarlberger ganz wesentlich an jenen Ränkespielen beteiligt, die einer demokratischen Wahl bei der Stratifikation von Kandidat:innen vorausgehen. Einer davon war ein aussichtsreicher parteiinterner Bewerber; der andere sein Verhinderer, welcher seinen persönlichen Favoriten durchsetzte. 1928 endete die zweite Amtsperiode von Michael Hainisch. Damals wurde der Bundespräsident noch durch beide Kammern des Parlaments gewählt, nicht durch das Volk.

Die Nationalratswahl von 1927 hatte einen Erfolg der SDPÖ gesehen, die mit 71 Mandaten drei dazugewonnen und nur mehr zwei hinter der CSPÖ mit 73 Mandaten lag. Die Christlichsozialen konnten sich nur dank einer Einheitsliste mit Großdeutschen und Nationalsozialisten (Schulz) sowie einer Koalition mit einer kleinen rechtsbürgerlichen Partei (Land-Bund) an der Macht halten. Vor diesem Hintergrund war klar, dass das Parlament bei der Wahl eines Bundespräsidenten ebenso fragmentiert sein und kein Kandidat, keine Kandidatin eine Mehrheit erhalten würde.

Zugleich war Bundeskanzler Ignaz Seipel gewillt, dem in diversen Printmedien und verein-zelt auf der Straße geäußerten Wunsch nach einer Stärkung des Amtes des Bundespräsiden-ten nach dem Vorbild von Deutschland, wo er umfassende politische Befugnisse hatte, nachzugeben. Daher kam es 1929 zu einer Novelle der Bundesverfassung, die den Präsiden-ten etwa zum Oberbefehlshaber des Heeres machte, ihm die Abberufung einer Regierung ermöglichte und ihn durch das Volk direkt wählen ließ.

Nicht novelliert wurde die maximale Amtszeit eines Bundespräsidenten, einer Bundespräsidentin von zwei Perioden. Damit schied Michael Hainisch, der neben Dr. Rudolf Kirchschläger (1974-1986) der einzige tatsächlich parteilose Bundespräsident der Ersten und der Zwei-ten Republik war, aus dem Rennen. Einzelne Parteienvertreter hatten tatsächlich mit ihm und einer dritten Amtsperiode kokettiert und Hainisch hatte dazu auch schon „ja“ gesagt. Die Sozialdemokratie wollte den Kandidaten der Großdeutschen Volkspartei verhindern, da dieser als Polizeipräsident von Wien für ein Massaker unter sozialdemokratischen Demonstrant:innen gesorgt hatte.

Der Mitbegründer der Ersten Republik und ihr erster Vizekanzler Jodok Fink wollte, wohl aus alter Verbundenheit und im Wissen um den ersten Präsidenten Karl Seitz, der dem Parlament und dem Staat in Personalunion vorstand, Dr. Wilhelm Miklas (1928-1938) in dem Amt sehen. Miklas war von 1923 bis 1928 Präsident des Nationalrates, also der ersten Kammer des ös-terreichischen Parlaments. Als solcher hatte er wie Karl Seitz eine Affinität zum Präsidenten-amt. Teile von Finks Christlichsozialer Partei favorisierten jedoch Dr. Otto Ender als Kandida-ten, insbesondere wenn wie 1929 novelliert der Bundespräsident direkt vom Volk gewählt werden würde. Da trauten sie Otto Ender, der seit 1918 Landeshauptmann von Vorarlberg und damit in Wahlkämpfen erfahren war, mehr zu. Schließlich setzte sich Fink parteiintern durch.

Die CSPÖ nominierte Miklas zur Wahl. Die SDPÖ gab leere Stimmzettel ab, weil sie den großdeutschen Kandidaten verhindern wollten und eine Volkswahl des Bundespräsidenten ablehnten. So wurde Wilhelm Miklas am 10. Dezember 1928 durch die Bundesversammlung zum Bundespräsidenten gewählt.
Im Herbst 1930 nutzte Miklas als erster und bisher einziger Bundespräsident das dem Amt in der B-VG-Novelle von 1929 verliehene Recht der Auflösung des Nationalrates auf Antrag der Bundesregierung. Nach der Nationalratswahl vom 9. November 1930 nominierte er Otto Ender zum Bundeskanzler und regte bei ihm an, die für 18. Oktober 1931 vorgesehene Volkswahl des Bundespräsidenten u.a. wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage auszusetzen. So kam es dann auch. Miklas wurde 1931 erneut durch die Bundesversammlung zum Staatsoberhaupt gewählt und blieb es bis zur Okkupation Österreichs durch NS-Deutschland im März 1938. Obwohl seine Amtsperiode 1935 ausgelaufen wäre. Das wurde wegen veränderter verfassungsrechtlicher Rahmenbedingungen möglich.

So aktiv sich Miklas bei seiner eigenen Wahl und bei der Entlassung einer Bundesregierung und der Ernennung eines Kanzlers um 1930 gezeigt hatte, so passiv übte er sein Amt in der Folge aus. Gerade dann wäre eine aktive Rolle jedoch demokratiepolitisch wichtig gewesen.

Der Bundespräsident als gescheiterter Krisenmanager

Als im März 1933 die Regierung Dollfuß einen Faux Pas der Geschäftsordnung des Parlamentes dazu nutzte, die Demokratie in Österreich abzuschaffen, entließ Miklas diese Bundesregierung nicht. Das hätte er jedoch tun müssen, da die Regierung Dollfuß gegen die Verfassung verstieß. Er löste auch den Nationalrat nicht auf, wie er es 1930 getan hatte, und schrieb Neuwahlen aus. Er weigerte sich im Herbst 1933 eine Petition von rund einer Million Unterzeichner:innen anzunehmen, die eine Wiedereinsetzung des Parlamentes forderte.

Ende November 1933 verfasste Miklas jedoch ein Rücktrittsschreiben, das er allerdings nie absandte. Darin schlug er vor dann als Bundespräsident zu demissionieren, wenn eine untadelige Person zum Bundeskanzler ernannt werde, die in Personalunion auch das Innen- und das Verteidigungsministerium führen sollte. Diese Person hätte dann nach seinem Rücktritt, so sah es die Verfassung von 1920/29 vor, auch das Amt des Bundespräsidenten übernommen. In der Zweiten Republik war das bei den ersten vier Bundespräsidenten der Fall: Sie starben in ihrer Aktivzeit und in den Wochen bis zur Neuwahl waren die jeweiligen Bundeskanzler 1950, 1957, 1965 und 1974 auch Bundespräsidenten. Sie waren aber nicht wie Miklas es vorschlug in Personalunion auch noch Innen- und Verteidigungsminister.

Angeblich dachte Wilhelm Miklas bei der untadeligen Person, die so viel Machtfülle erhalten sollte, an Dr. Otto Ender. Genannt wird in der fachwissenschaftlichen Literatur jedoch auch der oberösterreichische Landeshauptmann Josef Schlegel. Fakt ist, dass es nie zu seinem Rücktritt kam und in Österreich von 1933 bis 1938 eine ständestaatliche Diktatur er-richtet wurde – mit einem vom demokratisch legitimierten Parlament zweimal, 1928 und 1931, gewählten Bundespräsidenten an der Spitze.

Resümee

Im Frühjahr 2019 kommentierte der amtierende österreichische Bundespräsident Alexander van der Bellen in einer Fernsehansprache angesichts einer sich anbahnenden Staatskrise wegen der sog. Ibiza-Affäre, dass sich „gerade in Zeiten wie diesen […] die Eleganz, ja die Schönheit unserer österreichischen Bundesverfassung“ zeige. Sie habe es ihm ermöglicht, als zuständiges oberstes Organ der Republik eben eine solche Staatskrise abzuwenden, indem er die in der Verfassung vorgesehene aktive Rolle des Bundespräsidenten wahrnahm und für die Erhaltung der Regierungsfähigkeit der Republik sorgen konnte.
Van der Bellen war nicht der erste Bundespräsident, der mehr als „Frühstücksdirektor und Staatsnotar“ der Republik Österreich war. Wilhelm Miklas war unter anderen Vorzeichen ebenfalls mehr Staatsmanager als Staatsrepräsentant – und führte die Republik trotz Eleganz und Schönheit ihrer Verfassung in eine vollkommen andere Richtung, jene der Diktatur.

Eine solche aktivere Ausübung des Amtes des Bundespräsidenten wie bei Miklas oder Van der Bellen war jedoch nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Sie entsprach über ein Jahrhundert auch nicht der Erwartung, welche die Menschen und die politischen Parteien an das Amt hatten.

Grosso modo verstanden sich alle zwölf Männer, welche seit 1918 das Präsidentenamt bekleideten, in Übereinstimmung mit der allgemeinen Erwartung an das Amt als passive erste Diener des Staates. Sie hielten sich daher im Unterschied zum Parlament aus der Tagespolitik heraus. Sie überwachten und kommentierten wie das Parlament auch jedoch das Tun der Bundesregierung auf Verfassungsmäßigkeit. Diese Aufgabe kommt den beiden, Bundespräsident und Parlament, nach der Verfassung auch zu. Ohne Eleganz, ohne Schönheit. In dieser Aufgabe werden Bundespräsident und Parlament von unabhängigen Gerichtshöfen und Kontrollinstanzen unterstützt. Als oberstes Korrektiv, von dem alle abhängig sind, agiert in der Republik Österreich allerdings ausschließlich das sog. Staatsvolk.

Aus diesem „Staatsvolk“ rekrutierte das Amt des Bundespräsidenten seine Vertreter nicht. Lediglich einer, Franz Jonas (1965-1974), war als Schriftsetzer ein gelernter Arbeiter. Die anderen wiesen alle akademische Abschlüsse auf und hatten ebensolche Berufe.

Ein Viertel war zuvor im Diplomatischen Dienst bzw. Außenpolitiker.

Die Hälfte aller Bundespräsidenten waren Mitglieder der SPÖ oder ihrer Vorgängerorganisation, je einer in der Ersten und in der Zweiten Republik waren parteilos, die anderen Mitglieder bürgerlicher Parteien wie der Christlichsozialen, der Grünen und der ÖVP. Keiner, auch nicht die Parteilosen, waren ohne parteipolitische Erfahrung. Sie waren das als Kabinettschef von Regierungsmitgliedern, als Parteivorsitzende, als Parlamentsabgeordnete, als Bürgermeister, als Parteiangestellte oder als Wunschkandidaten von Kleinstparteien.

Das Gros konnte auf parlamentarische Meriten verweisen. Alle waren zu einem Zeitpunkt ihrer Berufskarriere in parteipolitische Netzwerke eingebunden. Am deutlichsten machte dies Franz Jonas: Als er 1965 sein Amt als Bundespräsident antrat, verwies er darauf, dass seine drei Vorgänger Karl Renner, Theodor Körner und Adolf Schärf seine Lehrer in Staats- und Verfassungskunde an der sozialdemokratischen Parteischule gewesen seien. Daher fühle er sich diesen besonders verbunden und werde das Amt des Bundespräsidenten in ihrem Sinne weiterführen.

Selbst ein parteiloser Bundespräsident wie Rudolf Kirchschläger, der als bekennender Christ der Kandidat der SPÖ war und in den Kabinetten Kreisky I/II Außenminister, kam nicht ohne eine derlei soziologische Familie aus: Kirchschläger war ein Schulfreund des Sohnes von Bundespräsident Wilhelm Miklas – und Mitglied der Vaterländischen Front.

Für die Geschichte des österreichischen Bundespräsidenten gilt daher: Ohne Partei gab es keinen Bundespräsidenten. Auch wenn das Amt als parteipolitisch neutral verstanden werden will, ist es realpolitisch eines, das nur mit vormaliger Parteibindung ausgeübt werden kann – und idealerweise auf viele Jahre Erfahrung in parlamentarischer und/oder regierungspraktischer Arbeit verweisen kann.

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